textologie
Prof. Dr. Claus Zittel

Textologie und Materialität
(Text-Bild-Wissen)

Philosophische Textlektüren verfahren meist inhaltsorientiert und beachten formale Aspekte nur, insofern diese die Argumentation betreffen. Die rhetorische Struktur der Texte, Stilfragen, Metaphern, grammatische Besonderheiten, intertextuellen Bezüge oder gar ihre Stimmung  geraten selten in den Blick, gelten sie doch als zu vernachlässigende Äußerlichkeiten. Noch seltener wird nach der materiellen Dimension der ja stets in besonderer Druckgestalt vorliegenden Texte gefragt, also nach der Physiognomie des Textes, nach der Absatzgestaltung, der Typographie und den zuweilen präsenten Textabbildungen.

Meine Forschungen verfolgen das Ziel, die kognitive Relevanz der materiellen Dimension der Texte aufzuzeigen, indem deren Rolle für die Lektüresteuerung und Textorganisation vorgeführt wird, von denen wiederum die Form, Stringenz und Überzeugungskraft der Argumentation abhängt. Es kommt zudem darauf an, nicht nur zu sehen, was z.B. ein Text mit einem Bild macht, sondern auch, was das Bild mit dem Text anstellt bzw. inwiefern ein Text selbst zum ‚Bild‘ werden kann. Text-und Bildbegriff sowie ihr Verhältnis zueinander wären textologisch neu zu bestimmen. Implizit liegt vielen Untersuchungen von Text-Bild-Relationen eine Vorrangigkeit des Sprachlichen insofern zu Grunde, als die bildlichen Formen des Argumentierens, des Ordnens, logischen Verknüpfens, der Evidenz etc. mit Hilfe von Kategorien der philosophischen Logik und Rhetorik begriffen werden sollen und nicht umgekehrt gefragt wird, ob man den Text über materiale visuelle Ordnungsdispositionen, Assoziationsketten, Konstellationen, Konfigurationen, Physiognomien etc. anders betrachten und lesen kann.

Insbesondere zur kognitiven Valenz von Textabbildungen in philosophischen Editionen vergangener Jahrhunderte habe ich bereits Vorarbeiten geleistet, die nun weiter geführt werden sollen in Richtung einer Theorie und Geschichte epistemischer Text-Bild-Relationen.  Einher geht dieses Projekt mit einer Kritik an gängigen Editionspraktiken insbesondere philosophischer Texte der frühen Neuzeit sowie mit Überlegungen, wie der Textbegriff zu verändern wäre, wenn gezeigt werden kann, das inter alia Bilder und Textgestalt  konstitutiv an der Formierung von epistemischen Diskursen beteiligt sind. In Konsequenz daraus werden auch intertextualitätstheoretische Ansätze literaturwissenschaftlicher Provenienz zu überprüfen sein, wenn sie einseitig Text-Text-Beziehungen privilegieren, denn es gibt sowohl bei wissenschaftlichen als auch poetischen Texten des öfteren den Fall, dass ein Text ein Bild aus einem anderen Text ‚zitiert‘, den Text des Textes aber nicht. Auch können Bilder sich gegen Textaussagen wenden, deren Lektüre entsprechend lenken oder sie können sich von Texten lösen und sich als materiale Bedeutungsträger alleine durch die Geschichte des Wissens reisen.

Wenn Bilder Diskurse nicht einfach ergänzen, sondern mindestens mitkonstituieren, hat dies zur Folge, daß sie dadurch auf sprachliche Systeme fokussierte rekonstruktive Verfahren subvertieren. Bilder, auch wenn sie gemeinsam mit Texten auftreten, können auf unterschiedlichen diskursiven Gleisen die Rezeption steuern als Texte, sich verselbständigen, mit anderen Bildern epistemische Konstellationen oder Zirkulationsprozesse begründen. Die Zirkulationswege von solchen Bildern wäre also zu untersuchen, wollte man historisch und systematisch distinkt Prozesse der Wissensgenerierung erklären. Mehr noch: die Trennung von poetischen und philosophischen resp. wissenschaftlichen Texten fällt, wenn die letzteren sich als ebenso von nichtpropositionalen Faktoren bestimmt erweisen. Im Lichte avancierter kulturalistischer Wissenstheorien in der Nachfolge Flecks erscheinen philosophische und wissenschaftliche Texte nicht weniger kulturbedingt als literarische Texte, weshalb bei ihrer Analyse nicht allein logisch rekonstruktive Verfahren gewählt werden können, sondern  philologische, editonswissenschaftliche und ästhetische Perspektiven eingenommen werden müssen, um die Relation von materialer Textstruktur und Erkenntnis textologisch wie erkenntnistheoretisch zu erfassen.

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