textologie
Sarah Scheibenberger

Formen des Essayistischen
im Werk von Walter Benjamin

Einer Arbeit, deren Anliegen die Bestimmung von ›Formen des
Essayistischen im Werk von Walter Benjamin‹ ist, stellt sich die Frage
nach ihrer adäquaten Methode aus verschiedenen Gründen mit
besonderer Dringlichkeit. Insbesondere jeder literaturwissenschaftlich
motivierte Versuch eines Zuganges zu Benjamins Texten sieht sich
notwendigerweise mit Fragen nach der Begründung der eigenen
theoretischen Voraussetzungen konfrontiert, da Benjamins Schreiben
unverhohlen die prekäre Natur literaturwissenschaftlicher Kategorien
(etwa der Gattungsbegriffe) herausfordert - insofern hat Adorno
recht, wenn er Benjamins Methode als »Parodie der philologischen«
verstanden wissen wollte.

Welche Widerstände Benjamins Werk der philologischen Methode
entgegensetzt, zeigt schon die Verfahrensweise seiner (literatur)
kritischen Essays, denen ein erweiterter, materialer Text- und
Literatur-Begriff zugrunde liegt. In Objekten scheint Benjamin auf die
gleiche Weise wie in literarischen Texten - in den Artefakten seiner
Berliner Kindheit ebenso wie in Goethes Wahlverwandtschaften - zu
lesen, jeder vorgefundene Gegenstand wird ihm zum Prä-Text des
eigenen Schreibens und schreibt diesem in seiner materialen
(sinnlichen, emotiven, geschichtlichen, sozialen, kulturellen) und
transzendentalen (seine Möglichkeitsbedingung betreffenden)
Verfasstheit eine doppelte Struktur vor, die mit Begriffen Benjamins
am besten wohl als Ineinander von »Kommentar« und »Kritik« zu
bezeichnen ist. Benjamin verfährt, als ob jedes Phänomen auf formell
ähnliche Weise lesbar und mittels der Sprache übersetzbar ist in ein
sprachliches Gebilde, für das es als Denkanstoß fungiert. Die Suche
aber nach dem ästhetischen Ort, in dem dieses Denken und Schreiben
in Analogien begründet ist, das verschütt gegangene Objekte der
Lebenswelt betrachtet, als wären sie Kunstwerke, führt unvermeidlich
über den bloßen Gegenstand hinaus und nötigt zu philosophischen
Fragestellungen. Die Verschriftlichung eines solchen dynamischen
Hinterfragens ist unhintergehbare Aufgabe des Benjaminschen Essays.

Mein Dissertationsvorhaben stellt sich die Aufgabe, zu begründen,
weshalb Benjamins Werk am treffendsten mit dem Wort essayistisch
zu charakterisieren ist und weshalb eine Analyse der 'Formen des
Essayistischen' einen Kernbereich von Benjamins Denken und Schreiben
erschließt. Die Benjamin-Forschung spricht zwar meist und als
verstehe es sich von selbst von Benjamins Texten als von Essays, hat
diese Begriffswahl aber bislang theoretisch-systematisch nicht
begründet. Auf den ersten Blick zeichnet Benjamins Œuvre ja gerade
eine Formenvielfalt aus: Seine autobiographischen Prosaminiaturen,
Literaturkritiken, aphorismenhaften Skizzen, Übersetzungen und
traktatähnlichen philosophischen Aufsätze scheinen einheitlich weder
unter einem literaturgeschichtlich noch einem philosophiegeschichtlich
bestimmten Essay-Begriff zusammenzufassen zu sein. Ausgehend von
einer Analyse der besonderen Interpolation materialer und spekulativer
Denkungsart in Benjamins Texten, die notwendigerweise sprach- und
erkenntniskritische Fragen aufwirft, lässt sich indes ein erweiterter
Begriff des Essayistischen entwickeln, in dem sich die methodische
(wissenschaftliche), zur gleichen Zeit aber auch autoreflexive Instanz
eines produktiven Denkens ausdrückt, das beim Versuch einer
Darstellung der Realität und ausgehend von der Beschaffenheit des
Gegenstandes seiner Reflexion auch über die Möglichkeitsbedingungen
seiner (literarischen) Form reflektiert.

Meine Arbeit bewegt sich folglich im Spannungsfeld zwischen
Philosophie (als ästhetisch-kritische Reflexion) und
Literaturwissenschaft (als philologisch-kommentierende Textanalyse),
um der ambivalenten Verfasstheit des (Benjaminschen) Essays (und
auch der ihm inhärenten Dimension des Widersprüchlichen, Verhüllten
und Unsagbaren) beizukommen. Ihr Anliegen ist ein zweifaches:
nämlich sowohl einen erweiterten und dabei literaturwissenschaftlich
praktikablen Essay-Begriff zu erarbeiten, der zwischen Gattung Essay
und Syndrom Essayismus vermittelt, als auch einen Beitrag zu einem
bislang nicht erschlossenen Problemfeld der Benjamin-Forschung zu
leisten. Die exemplarische Textauswahl erfolgt dabei gemäß der
Annahme, dass die Kritik von Kunstwerken für Benjamin Beispiel für
jedes ästhetische Urteil ist. Die Textanalysen sind bewusst als
Fallstudien angelegt, da Exemplarität als wesentliches
Entwicklungsprinzip von Benjamins essayistischer Verfahrungsweise
verstanden werden muss.



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