Dr. Imelda Rohrbacher
Der Erzähler-Kommentar in der Literatur
der Moderne
Das Projekt zielt aus transdisziplinärer Perspektive auf die Beschreibung und Erfassung von Erscheinungsformen der Erzählinstanz in der Moderne vor folgendem Hintergrund ab:
Ein immer wieder ungeprüft repetierter Gemeinplatz der Narratologie zur deutschsprachigen Literatur ist, dass das Verschwinden des Erzählerkommentars Signum modernen Erzählens sei (kanonisch: Stanzel 1995: 24-38, 242ff.; in seiner Terminologie: an die Stelle des „auktorialen“ treten der „personale“ und „neutrale“ Erzähler). Mein Forschungsprojekt soll aufzeigen, dass diese Auffassung sich einer klischeehaften und dramatisch unterkomplexen Auffassung dessen, was ein Erzählerkommentar in der vormodernen Literatur ausmacht, verdankt, denn der „auktoriale“ Erzähler wird zumeist als das Romangeschehen von olympischer Position kommentierende leibhafte Instanz beschrieben. Als Kompensation für dessen Verschwinden in der Moderne wird dann außerdem auch ein „unzuverlässiger“ Erzähler eingeführt, wobei hier angloamerikanische Konzepte (Wayne C. Booth) aus ihrem Begründungszusammenhang gelöst und in Kontexte importiert werden, für die sie nicht gedacht waren. Die Konsequenz ist ein vereinfachtes Verständnis unzuverlässigen Erzählens, das über die negative Charakteristik dessen, was der vormals „allwissende“ Erzähler nicht (mehr) macht, zustande kommt (vgl. Fludernik 2010: 179), und das es nicht erlaubt, komplexere Erzählsituationen adäquat zu erfassen. Dazu wäre eine positive Charakteristik des Erzählerkommentars notwendig und diese ist für die Literatur der Moderne ein dringliches Desiderat. Sie könnte nachweisen, dass auktoriales Erzählen und die Schreibweisen der Moderne sich nicht ausschließen.
Untersuchungen zum Erzählerkommentar des europäischen Romans im 18. und 19. Jahrhundert (Booth 1974, Iser 1987, Blessin 1996, Wirth 2008, Rohrbacher 2009) zeigen dagegen, dass bereits der klassische Erzählerkommentar weit variantenreicher und dynamischer zu fassen ist.
Ein ähnlicher Befund ergibt sich, wenn man z.B. französische oder englische Romane der Moderne zum Vergleich heranzieht, denn Autoren wie Virginia Woolf, André Gide oder Proust kennen den extensiven Einsatz von Erzählerkommentaren. Narratologische Studien zur deutschsprachigen Literatur der Moderne, so ist zu folgern, rezipieren hier die Forschung nur punktuell. Hinzu kommt, dass viele der hier zu untersuchenden Texte in späteren Editionen 'bereinigt' wurden, während in den Erstdrucken noch unheitlichere Formen des Kommentierens durch den Erzähler anzutreffen waren. Daraus ergibt sich ein eklatanter Mangel an Beiträgen, die die Erscheinungsweisen des Erzählerkommentars auch in der deutschsprachigen Moderne differenziert in den Blick nehmen.
Die Leitthese meines Projekts besteht somit darin, dass der Erzählerkommentar in der deutschen Literatur der Moderne nicht verschwindet, sondern in anderer Form erscheint und auf vielfältige Weisen das Erzählgeschehen organisiert. Um diese modernen Formen des Erzählerkommentars trennscharf zu bestimmen, muss allerdings erst einmal ein deskriptiver Apparat entwickelt werden, der auf philologisch gesicherter Basis die verschiedenen Signale, die erzählerische Metaebenen anzeigen, luzide zu beschreiben und damit auch nachzuweisen erlaubt. Dann erst kann auch die Frage genauer beantwortet werden, inwiefern der moderne Erzählerkommentar sich von den klassischen Formen unterscheidet und ob es überhaupt spezifisch moderne Formen des Kommentierens gibt.
Anhand von exemplarischen Analysen zu Texten von Benn, Döblin, Sternheim, Kafka, Joseph Roth, Robert Walser, Musil und Leo Perutz werde ich somit zuerst vorführen, dass in ihnen durchaus Erzählerkommentare zum Einsatz kommen, dann diese typologisieren, um so zuerst mögliche Traditionslinien in den Blick bekommen zu können. Hierbei darf ich mich nicht ausschließlich auf Texte der Avantgarde konzentrieren, sondern zum Vergleich sind auch traditionellere oder traditioneller erscheinende Texte in Augenschein zu nehmen (Thomas Mann, Flake, Leo Perutz, Ernst Weiss), die häufig allein nur aufgrund ihrer Stoffwahl von narratologischen Untersuchungen übergangen werden (Ausnahme: Kindt 2007, 2008; Martínez 1996).
Kurzum: Es fehlt eine Studie, die die verschiedenen Formen des Erzählerkommentars in der Moderne aufweist, typologisiert und vor dem Hintergrund der Erzähltradition bestimmt. Eine Neubestimmung dessen, was das Erzählen in der klassischen Moderne kennzeichnet und eine Revision zentraler literaturhistorischer Annahmen und Wertungen wird die zwangsläufige Folge sein. Denn wenn erstens gezeigt wird, dass es Erzählerkommentare in der Moderne gibt, ist deren Verschwinden kein Kriterium für das Bestimmung modernen Erzählens mehr und zweitens, wenn gezeigt wird, dass diese Formen auch vorher zum Einsatz gekommen sind, ist dies kein Spezifikum modernen Erzählens mehr. Es sind daher drittens die lehrbuchhaften Unterscheidungen zwischen klassischem und modernen Erzählen grundsätzlich zu hinterfragen.