textologie
Dr. Thomas Rahn

Gestörte Texte
Typographie als Interpretament (1870 bis 1930)

Das Projekt widmet sich interpretationsrelevanten typographischen Merkmalen literarischer und/oder philosophischer Texte: Layout, Schriftwahl, Auszeichnungsformen, Satzzeichen, paratextuelle Markierungen (wie Paginierung oder Inszenierung von Überschriften), Weißflächen, Linien und Ornamente. Untersucht wird, auf welche Weise typographische Phänomene Textaussagen stützen, modifizieren, unterlaufen oder reflektieren können.

Ein Beispiel: Wenn in einem Rilke-Gedicht von einer ‚Leere‘ gesprochen wird und im Druck zugleich das Schrift-Bild einer Leere erscheint, weil die letzten Worte einer überlangen Verszeile umbrochen werden und sich - umschlossen vom Textkörper - ein Weißraum bildet, interferiert das Wort mit der offenen Metaphorizität  der materialen Textebene. Ziel des Projektes ist die Analyse und Typologisierung solcher typographischen Sinneffekte. Dabei soll nicht die Frage nach Zufall oder Kalkül den Maßstab für die Berücksichtigung typographischer Phänomene abgeben (also nicht, ob die ‚Autorisierung‘ typographischer Auffälligkeiten nachweisbar ist), sondern ob sich ihr Interpretamentcharakter in einer dichten und kohärenten Textanalyse erweisen läßt. Im Gegensatz zu einer traditionellen Hermeneutik des ‚reinen Textes‘, aber auch zu neueren Versuchen, die Bedeutungshaftigkeit der materialen Textebene ausschließlich an eindeutige Kommunikationsintentionen von Autoren, Druckern und Verlegern zu binden, setzt die Untersuchung methodisch auf Ansätze der Rezeptionsästhetik, der Medienwissenschaft und der aktuellen Schriftbildlichkeitsforschung.

Ein besonderer Fokus liegt auf solchen Interpretamenten, die auf typographischen Normabweichungen beruhen, sei es (1.) der vom Gewohnten abstechende autor- oder textspezifische Einsatz von Typographie (etwa: Nietzsches exzeptionelle Nutzung von Interpunktion, Sperrungen, Geviertstrichen und Linien), seien es (2.) medienbedingte Störungen (Druckfehler, typographieästhetische Normbrüche oder satzbedingte Notbehelfe), die in den Text ‚einsprechen‘ können.

Der Untersuchungszeitraum 1870 bis 1930 wurde gewählt, weil in diesen Zeitraum - mit Umschlagpunkt in der Jahrhundertwende - ein entscheidender typographiehistorischer Umbruch fällt: Mit der Buchkunstbewegung und mit der Entstehung des neuen Berufsbildes ‚Typograph‘ (neben dem traditionellen des Setzers) geht eine historisch einmalige Konjunktur der typographisch-gestalterischen ‚Individualisierung‘ von literarischen Texten einher.

Die Studie wird in drei Abschnitte gegliedert sein, die verschiedene Perspektiven auf das Material bieten. In Abschnitt I („Autoren“) werden Drucke ausgewählter Autoren analysiert, bei denen sich typographische Interpretamente auffällig häufen (Nietzsche, Lasker-Schüler, Rilke, Walser, Kafka, Benjamin) bzw. die sogar, wie Nietzsche und Rilke in Briefen an ihre Verleger, den Interpretamentcharakter von typographischen Formen explizit ansprechen. Abschnitt II („Verlage“) lotet am Beispiel programmatisch und ästhetisch ambitionierter Unternehmen (Axel Juncker, Insel, Kurt Wolff, Rowohlt) aus, inwieweit spezifische buchgestalterische Verlagsprofile den Rahmen für typographische Bedeutungseffekte setzen. Und Abschnitt III („Typographische Topoi“) zielt auf eine breite Typologie der Bedeutungsmöglichkeiten diverser typographischer Kategorien zwischen Layout und Detailtypographie.
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