Simon Morgenthaler
Vom Bau und Umbau einer Wissenschaft
Die textuelle Konstruktion von Wissenschaftlichkeit in Hans Sedlmayrs Theorieprojekt von 1926-1956
Das sich jüngst ausbildende Interesse, wissenschaftliche Textproduktionen unter narrativen, rhetorischen und resonanzstrategischen Gesichtspunkten zu untersuchen und dabei auch texteditorische und -genetische Prozesse zu berücksichtigen, steht im Mittelpunkt dieses Dissertationsvorhabens. Ausgehend von einer exemplarischen Analyse ausgewählter Texte des österreichischen Kunsthistorikers Hans Sedlmayr (1896-1984) wird untersucht, wie Sedlmayr in Interaktion mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen und politischen Entwicklungen sein Werk - sein Verständnis von Kunstwissenschaft - in der Zeitspanne zwischen 1926 und 1956 baut und umbaut.
Sedlmayrs Theorieprojekt ist von seinen ersten Schriften an auf ein geisteswissenschaftlich-hermeneutisches Verstehen des Kunstwerks ausgerichtet, das ganzheitlich bestimmt ist und den Interpretierenden autoritativ setzt. Gleichzeitig legt Sedlmayr über sein ganzes Werk hinweg Wert auf die „wissenschaftliche Strenge“ seines Ansatzes. Dafür greift er immer wieder auf neue ausserfachliche und oft naturwissenschaftlich orientierte Texte zurück und adaptiert diese in verschiedenen Verfahren für seine eigenen Textproduktionen. Sedlmayr diskutiert allerdings die Theoriemodelle nie systematisch im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Kunstwissenschaften. Vielmehr „transponiert“ er viele Zitate und platziert sie strategisch in seinen eigenen Texten oder überträgt allgemein gefasste Denkmodelle auf seinen Wissensbereich. Auffällig ist dabei, dass sich Sedlmayr oft für Texte interessiert, die selbst wiederum spezifische textuelle Inszenierungspraxen (bspw. das Narrativ des Experiments oder der Anamnese) und Rhetoriken aufweisen. Sedlmayr adaptiert andere Texte nicht nur auf der inhaltlichen Ebene, sondern richtet sein rezeptives Interesse auch auf deren textuelle Ausgestaltung. Die intensive Aufarbeitung archivalischer Bestände, die im Rahmen dieses Vorhabens geleistet wird, erlaubt es denn auch, textgenetische und textproduktive Prozesse nachzuzeichnen und diese im Zusammenhang mit der Frage nach der Materialität der Texte zu diskutieren und zu reflektieren, inwiefern diese für die Rezeption der Texte mitbestimmend ist.
Anhand eines repräsentativen Textkorpus wird erprobt, inwieweit ein textanalytisches und dezidiert literaturwissenschaftlich fundiertes Instrumentarium Erkenntnismöglichkeiten erschliessen kann, die für die Erforschung von wissenschaftlichen Textproduktionen überhaupt von Bedeutung sein können. Dabei wird ein Katalog von rhetorischen und narrativen Mitteln erstellt, wie sich eine wissenschaftliche Disziplin über die materielle Dimension des Textes legitimieren und positionieren und wie ‚Wissenschaftlichkeit’ textproduktiv konstruiert werden kann. Es wird systematisch herausgearbeitet, welche Rhetoriken, welche textuellen Strategien sowie para- und intertextuellen Arrangements im Prozess der Neuformulierung einer Disziplin zum Tragen kommen. Ein besonderer Fokus wird darauf gelegt, wie über die textuelle Konstruktion des Referenzsystems und die Verweise auf ausserfachliche Theoriekonvolute schliesslich ‚Wissenschaftlichkeit’ konstituiert wird und welche Rezeptionstechniken verwendet werden.
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