Uwe Maximilian Korn
Vom Positivismus zur Textologie
Die Geschichte der Editionswissenschaft von 1890-1960
Die Weimarer Goetheausgabe stellt in biographischer und institutioneller Hinsicht einen Höhepunkt des historisch-philologischen Paradigmas dar - Heerscharen von Professoren und Nachwuchswissenschaftlern der Deutschen Philologie waren in die Erarbeitung der 143 Bände eingebunden. Auch 1915 war in einem Periodikum außerhalb der akademischen Forschung, der ›Zeitschrift für Bücherfreunde‹, noch Platz für eine ausgedehnte Fachdiskussion über die Konjektur eines Schiller-Verses. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verließ die Editionswissenschaft jedoch das Zentrum der germanistischen Forschung zugunsten einer Etablierung als eigenständigere, methodisch ausdifferenzierte Teildisziplin mit verzweigter interner Kommunikation. Als Siegfried Scheibe 1961 zusammen mit einem Autorenkollektiv der Goethe-Akademie-Ausgabe den Anfang zu einer neuen, schärferen Terminologie in der Editionswissenschaft nimmt, ist das nur der Auftakt zu einer intensiven Diskussion editionstheoretischer Grundlagen und Methoden.
Diese Transformation werde ich in meiner Dissertation beschreiben; damit sollen Perspektiven der Editionswissenschaft und der Wissenschaftsgeschichte vereint werden, die bisher meist unabhängig voneinander existieren. Darin folge ich Hans-Harald Müllers Entwurf einer durch variable Zielvorstellungen und kumulative Methoden geformten Geschichte der Editionswissenschaft und rekonstruiere detailliert einen zentralen Abschnitt daraus. Mit den drei ›Bausteinen zur Geschichte der Edition‹ haben Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta u.a. schon viel Material hierfür zusammengetragen.
Neben einer Theoriegeschichte der Editionswissenschaft wird eine sorgfältige Beschreibung der Editionspraxis der in Frage stehenden Zeit die Darstellung bereichern: Welche Organisationsformen gibt es im deutschsprachigen Raum, wie erfolgreich wurden sie umgesetzt, was waren die editionstechnischen Grundlagen, wer waren der Träger der Editionsprojekte? Exemplarische Analysen werden sich daran anschließen. Ziel ist der Aufweis eines komplexen Gefüges editionstheoretischer und -praktischer Entwicklungen, das die Bewegung der philologischen Textedition vom zentralen Bestandteil des Fachs »Deutsche Philologie« bis hin zur Ausdifferenzierung als Spezialwissenschaft plastisch werden lässt. Durch die Beschreibung dieses wichtigen Zeitraumes der Editionswissenschaft, als Geschichte der Editionstheorie und der Editionspraxis, können die Auswirkungen der Veränderungen des Textbegriffes auf die Editionstheorie und die gegenseitige Abhängigkeit von literarischer Kanonbildung und der Editionstätigkeit einer Zeit aufgezeigt werden.