textologie
Prof. Dr. Sabine Griese

Literarische Texte des Mittelalters sind selten als Autortexte in festem und unveränderlichem Wortlaut erhalten. Auch wenn Heinrich Seuse beispielsweise in seinem Exemplar eine Werkausgabe letzter Hand versucht, die Texte der Ausgabe werden im Laufe der weiteren Überlieferung doch verändert, dies erkennen wir an den erhaltenen Handschriften und Drucken. Texte des Mittelalters existieren in Fassungen, Kurzformen, Exzerpten, in verschiedenen Aggregatzuständen, unikal oder mehrfach überliefert, sie ergänzen Bilder oder sind in Kleinformen als Inschrift (auf Häusern und Kunstgegenständen) formuliert. Schreiber, Redaktoren, Bearbeiter, Wiedererzähler formen den Text (weiter), modellieren Nuancen, passen Schreibsprachen an Erzählregionen an, erweitern in größerem oder kleinerem Umfang, kürzen nach eigenen Vorstellungen. Dies im Verhältnis zu einem ‚originalen‘ Text gedacht, den wir in der Regel rekonstruieren müssen. Doch ist das Verhältnis von Autortext und erhaltenen Textzeugen der späteren Jahre und Jahrhunderte kein lineares, da wir mit verlorenen Überlieferungszeugen rechnen müssen.
Der Text ist einem Autor in der Überlieferung gleichsam aus der Hand genommen und kann in der weiteren Tradition über die Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte der handschriftlichen und später gedruckten Tradition ein Eigenleben führen. Trotzdem sprechen wir von dem Werk eines Autors, wenn auch in verschiedenen Fassungen oder Aggregatzuständen und Präsentationsformen vorliegend. Mit dieser Ambivalenz von Autortext und Fassungen in der Überlieferung muss man bei der Arbeit mit mittelalterlicher Literatur umgehen.

Die Überlieferung eines Textes umfasst die erhaltenen Textzeugen, die handschriftlich und ab der Mitte des 15. Jahrhunderts gedruckt vorliegen können. Die Frage nach der Überlieferung eines Textes gehört zu den wichtigen Prä-Dominanten der Interpretation. Vor der Deutung eines Textes und der Interpretation seines Wortlauts steht die Klärung der Überlieferungslage und die Vergewisserung, auf welchen Text man zugreift, wenn man liest und interpretiert.


An zwei Bereichen erarbeite und erforsche ich zur Zeit Textzustände:

1. Texte auf gedruckten Bildern des 15. Jahrhunderts

Einblättrige Holz- und Metallschnitte des 15. Jahrhunderts sind nicht selten als Bild-Text-Kombination organisiert. Größere und kleinere Textmengen (Gebete, Schriftzitate, Andachtstexte, Schriftzitate, Anweisungen und mehr) sind auf diesem im 15. Jahrhundert modernen Bildmedium mitüberliefert, dem Medium nicht später zugefügt, sondern originär und strukturell verbunden. Texte werden dabei als diagrammatische Strukturen gestaltet oder sie ergänzen im Spruch- oder Schriftband eine Bildszene. Wilhelm Ludwig Schreiber hatte am Anfang des 20. Jahrhunderts den Bestand der Graphik in seinem ‚Handbuch der Holz- und Metallschnitte‘ (Leipzig 1926-1930) erfasst. Dieses Handbuch erneuere ich für den Teilbestand der mit Texten kombinierten Graphik; dabei werden ca. 850 Drucke exemplarspezifisch beschrieben. In dem ‚Repertorium der textierten Einblatt-Holz- und -Metallschnitte des 15. Jahrhunderts‘ erschließe ich dieses Medium neu, indem ich die Bilder beschreibe, die Texte transkribiere und in ihre Tradition und Textüberlieferung einordne, um so die Geometrie von Schrift und Bild neu zu vermessen.

Literatur: Sabine Griese, Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von Einblatt-Holz- und -Metallschnitten des 15. Jahrhunderts, Zürich 2011 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 7)

2. Die Texte- und Textqualitäten der sogenannten Lauber-Werkstatt und der Vorgängerwerkstatt von 1418

In dem Projekt „Diebold Lauber digital“, das 2013-2015 vom Europäischen Sozialfonds und dem Land Sachsen gefördert wurde, entstand ein Portal, das die Handschriften aus der Werkstatt von 1418 und derjenigen, die unter dem Namen Diebold Lauber geführt wird, erschließt. Digitalisate der Codices mit Metadaten und Informationen zu Schreibern, Malern und dem verwendeten Papier stehen zur Verfügung, um die Materialität der Handschrift vom Lagenverbund her zu lesen, um den Werkstattverbund und seine Produkte, die großformatige illustrierte Romanhandschrift in der Volkssprache zu durchleuchten.
In einem Anschlussprojekt sollen die Textqualitäten dieses „Markenartikels“ (Saurma-Jeltsch) aus dem deutschen Südwesten untersucht werden.

Vgl. das Lauber-Portal: http://wirote.informatik.uni-leipzig.de/mediavistik/
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